Soforthilfe für Mediziner

Einschätzung Suizidalität für Notaufnahme (AKUT-S) und Akutpsychiatrie (SAL)


Mit Selbstverletzung in die Notaufnahme – Tipps für die Akutsituation!

Key facts

  • Das Suizidrisiko ist um ein Vielfaches erhöht!
  • Selbstverletzungen treten wiederholt oder chronisch auf!
  • Selbstverletzungen dienen oft zur Spannungsregulation!
  • PatientInnnen sind schmerzempfindlich – Anästhesie!

Umgang mit einer speziellen Patientengruppe – eine Frage der Haltung!

Weil die Selbstverletzung aus medizinischer Sicht so unsinnig und unnötig erscheint, lösen PatientInnen bei professionellen Helfer oft Unverständnis, Ärger oder sogar Ablehnung aus. Denken Sie immer daran, wenn ein/e Patient/in in die medizinische Versorgung kommt, braucht er oder sie wirklich Hilfe, der Schritt war meistens überfällig und über lange Zeit wurde eine oft ungenügende Selbstversorgung durchgeführt. Manchmal haben PatientInnen ihre Selbstverletzungen über Jahre verborgen und verheimlicht.

Und zugegebenermaßen kommunizieren manchmal die Betroffenen „nicht besonders angemessen“. Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen! Je professioneller Sie die Situationen managen, desto ruhiger wird Ihr Gegenüber!

ValidierenValidation Validation bezeichnet den wertschätzenden Umgang mit dem Gegenüber, auf gleicher Augenhöhe mit dem unbedingten Versuch des gegenseitigen Verstehens.

„Das kann passieren, in der Not geschieht schwer Erklärbares!“

Sicherheit geben

„Es ist gut, dass Sie hier sind! Hier sind Sie sicher!“

Beziehung herstellen

„Was ist geschehen? Erzählen Sie es mir genau!“

Unterstützung geben

„Soll ich Jemanden informieren?“
„Haben Sie einen Notfallkontakt?“

Fürsorge

„Geschah die Selbstverletzung in suizidaler Absicht?“
„Haben Sie momentan drängende Suizidgedanken?“

Nachsorge

„Es ist mir wichtig, dass Ihre Wunden gut heilen.“
„Bitte vereinbaren Sie einen Termin zur Kontrolle!“


SOARS

Gehen wir mehr ins Detail – und keine Angst vor dem Anamnesegespräch: Man kann gar nicht so viel falsch machen. Schlimmer ist es, nichts zu fragen und einfach medizinisch loszulegen.

Muhlencamp et al. haben in ihrem Modell SOARS unterschiedliche Interventionen vorgeschlagen, die wir ins Deutsche übersetzt gerne übernehmen. SOARS steht dabei für Suicidal Ideation, Onset, Frequency and methods, Aftercare, Reasons und Stage of Change. Weil aber SBNGV (Suizidgedanken, Beginn, Nachsorge, Gründe, Veränderung) im Deutschen etwas sperrig klingt, lassen wir es bei der Originalbezeichnung. Mehr Informationen zum Modell: SOARS-model

Muehlenkamp, Jennifer J., and M. D. May Lau. „SOARS Model: Risk Assessment of nonsuicidal self-injury.“ Contemporary Pediatrics 33.7 (2016): 25

SOARS Pocket Card

Eingangsfrage

Haben Sie sich jemals absichtlich verletzt, ohne die Absicht, Ihr Leben zu beenden oder einen Selbstmordversuch zu unternehmen, z. B. durch Schneiden, Beißen, Verbrennen, Schlagen?

Frage nach Suizidgedanken
  • Ich weiß, dass es bei Selbstverletzungen normalerweise nicht um Selbstmord geht, aber manche Menschen denken an Selbstmord, wenn sie sich selbst verletzen.
  • Haben Sie jemals daran gedacht, Ihr Leben absichtlich zu beenden, wenn Sie sich selbst verletzen?
Fragen zu Beginn, Häufigkeit und Methode
  • Wann war das erste/letzte Mal? (gemeint ist das Lebensalter) TIPP: Bei der überwiegenden Anzahl der PatientInnen tritt das Verhalten bereits im 13/14. Lebensjahr auf. Helfen sie Ihrer Patientin, wenn Sie zögert: „Ich weiß dass viele bereits mit 14 Jahren erste Erfahrungen mit Selbstverletzungen gemacht haben, wie war das bei ihnen?
  • Wie oft pro Woche/Monat verletzen Sie sich selbst? Die Frage ist nicht gedacht einen genauen Plan zu bekommen, aber es eröffnet auch den Raum über die Dynamik der Selbstverletzung – nimmt es zu, wird es häufiger, oder war lange Ruhe und in einer akuten Krise kommt es plötzlich wieder. Es gibt auch einen einmaligen Rückfall und medizinische Versorgung ist notwendig, ob Nachfolgeverletzungen zu vermeiden.
  • Was tun oder benutzen Sie normalerweise? TIPP: Keine Angst konkret zu werden, sie animieren nicht. Aber das Thema ist schambesetzt. Es hilft Antworten auch aus eigenen Erfahrungen mit anderen PatientInnen zu geben. „Viele Kratzen ständig, oder benutzen sogar Rasierklingen, bzw. Cuttermesser, manchmal habe ich aber auch Verbrennungen gesehen. Wie ist das bei Ihnen?
Frage zur Nachsorge

Wie versorgen Sie die Wunden danach? Haben Sie sich schon einmal so schwer verletzt, dass Sie ärztliche Hilfe brauchten, auch wenn Sie sie nicht bekommen haben?

Frage nach den Gründen

Das hört sich an, als ob das für Sie hilfreich gewesen wäre. Was bewirkt es bei Ihnen? (Auf welche Weise hilft es Ihnen?)

Fragen zum Veränderungswunsch

Würden Sie gerne mit diesem Verhalten aufhören? Haben Sie jemals daran gedacht, damit aufzuhören?


Medizinische Versorgung – gut zu wissen:

  1. Lassen Sie sich nicht von der Ursache oder Häufigkeit des Schadens beeinflussen; beurteilen Sie allein die Schmerzen und bieten Sie Analgetika an
  2. Vermeiden Sie „Alles oder nichts“-Ansätze, z.B. wenn der vorgeschlagenen Behandlung nicht direkt gefolgt wird, weisen Sie nicht vorschnell ab, es geht auch immer um Kontrolle der Situation
  3. Beziehen Sie die Patienten in Entscheidungen ein und ermöglichen Sie Selbstversorgung
  4. Obwohl manche Selbstverletzungen erheblich sein können – Vorsicht, PatientInnen können danach ausgeprägt schmerzempfindlich sein, auch wenn man das in der Phase der Selbstverletzung nicht vermutet. Bitte für ausreichend lokale Anästhesie sorgen.
  5. Für gute Wundabdeckung sorgen, nicht sichtbar lassen.
  6. Bei chirurgischer Versorgung den Versuch unternehmen Narbenbildungen wenn möglich zu vermeiden. Auch wenn schon Vorschädigungen vorhanden sind, es braucht nicht noch mehr.

Kurze Interventionen in der Akutkrise

Emotionale Spannung und Stress reduzieren

Ziel: Alternative Strategien erkennen um emotionalen Stress zu reduzieren (mit einer Freundin sprechen, Malen, Entspannungstechnik, Tagebuch schreiben, Trainieren)

Beispiel: Gibt es Wege dass sie ein Gefühl erzeugen können, wenn Sie sich taub und leer fühlen, auch wenn das nicht so schnell funktioniert wie eine Selbstverletzung?

Etwas zu fühlen, weil man sich taub oder leer fühlt

Ziel: Suche nach alternativen Strategien zur Erzeugung von Gefühlen (z. B. eine kalte Dusche nehmen, eine scharfe Paprika essen) oder Diskussion mit dem/r Patienten/in wie er/sie die Gefühlslosigkeit vorläufig tolerieren könnte (z. B. Akzeptieren einer vorübergehenden emotionalen Taubheit).

Kennen sie andere Wege wie sie im Zustand der Gefühllosigkeit oder der Leere Emotionen oder Gefühle auslösen könnten, auch wenn das nicht so schnell geht wie mit einer Selbstverletzung. Manche Patienten profitieren z.B. von einer kalten Dusche oder essen Chilli-Bonbons?

Mit anderen kommunizieren

Ziel: Suche nach Strategien, um eigene Bedürfnisse besser zu kommunizieren (z.B. wie kann ich andere nach Ermutigung, nach einem rat, oder nach einer Umarmung fragen, oder bitten einfach still beinander zu sitzen oder etwas zusammen zu unternehmen).

Wie können sie ihren Vater, Ihre Mutter, ihre/n Partner/in nach emotionaler Unterstützung oder Hilfe fragen, ohne sich zur zu verletzen oder es anzudrohen?

Selbstbestrafung

Ziel: Konzepte der Selbst-Vergebung oder der Akzeptanz unperfekt zu sein vorstellen

Es klingt, als ob Sie im Moment genug Bestrafungen im Leben erfahren haben. Wie wäre es, wenn Sie, anstatt sich noch mehr Strafen aufzuerlegen, etwas Raum für Fehler oder Selbstvergebung lassen würden?