Imaginäre Grenzen im Seminar

Ich wurde von Assistenzärzte und Ärztinnen gebeten eine Weiterbildung zum Thema „die Borderline Persönlichkeitsstörung“ zu halten. „Bitte nur eine Stunde, die wesentlichen Fakten und dann weiß jeder was er machen soll“ – so die Hoffnung.

Ich muss dazu sagen, dass ich gerne Kurzvorträge halte, aber vom Ergebnis oft eher ernüchtert bin. Bleibe ich zu oberflächlich, dann hab ich nicht das Gefühl, dass die Teilnehmer für den nächsten Notfall oder Neuaufnahme gerüstet wären. Gehe ich zu sehr ins Detail, dann ist die bisherige Erfahrung ebenfalls frustran -„Oha, das ist kompliziert, anstrengend, es überfordert mich – das sollen dann doch lieber PsychologInnen und Spezialisten übernehmen“.

Warum dann aber nicht neue Weg gehen. Also hatte ich mich an meine Spezialstation für DBT und Schematherapie gewandt, ob die PatientenInnen nicht Lust hätten auch an der Fortbildung teilzunehmen. Gesagt getan, die DBT Gruppe kam geschlossen – 10 Teilnehmer und eine gleiche Anzahl an jungen Ärzten. Im Raum kam es dann spontan zu einer spannenden Sitzordnung, alle Ärzte rechts, die PatientInnen geschlossen links. Man hat sich beäugt, war befremdet, es lag eine spürbare Spannung in der Luft. Etwas belustigt dachte ich mir, „was für ein schönes Bild für DialektikDialektik Eigentlich ein philosophischer Begriff mit verschiedenen Definitionen und Interpretationen. Dialektisch bezieht sich hier vor allem auf die Grundhaltung der DBT. „Dialektisch“ ist nicht nur namensgebend, sondern wird von Marsha Linehan in der Darstellung der Konzeption in verschiedensten Zusammenhängen gebraucht. Im Prinzip sollen rigide Strategien und Kognitionen bei Betroffenen aufgelöst werden. Im weiteren Sinn gebraucht Linehan den Begriff auch dafür, das bei vermeintlich unvereinbare Extremen auch an jedem Standpunkt etwas Wahres zu finden ist und dass sich durch Versöhnung der wahre mittlere Weg finden läßt., wir könnten auch noch eine Grenzlinie auf den Boden des Seminarraums zeichnen.“

Ich habe mich entschlossen den Vortrag zu Grundzügen der Erkrankung, zu Häufigkeiten, Symptombildung und Therapiemöglichkeiten wie geplant durchzuführen – die Aufmerksamkeit beider Gruppen war erstaunlich hoch und es blieb viel Zeit für Diskussionen.

Erste Frage eines Assistenzarztes an mich:

„In der Aufnahme hätte er immer Probleme mit den PatientInnen, da die sich nie entscheiden, häufig aggressiv seien, er einfach nicht wisse was er tun soll. Sind sie jetzt suzidal oder nicht, kann ich sie gehen lassen …“.

Ich hatte keine wirkliche Antwort und dachte mir – jetzt oder nie – Ring frei!

“Stellen Sie doch bitte Ihre Frage nochmals an die PatientInnen gegenüber – wir hoffen auf Antwort“.

Die Antworten hatten mich überrascht – und ich würde ignoriert, als ob ich gar nicht im Raum wäre:

Stellvertretend für alle antwortet eine Patientin:

“Wir sind kompliziert. Sie helfen mir am meisten, wenn Sie klar entscheiden, was Sie in dem Moment denken was das Richtig ist. Wir lehnen uns zwar sicher dagegen auf, einfach JA zu sagen käme mir nicht in den Sinn, aber am Ende bin ich froh wenn Sie die Verantwortung übernehmen, die ich im Moment nicht tragen kann. Ich weiß es ja selbst in dem Moment nicht. Nur wenn Sie selbst unsicher werden, dann habe ich das gefühl jetzt bin ich verloren! „

In der Folge hat sich ein spannender Dialog über die imaginäre Grenzlinie im Seminarraum entwickelt und ich hätte gefühlt tatsächlich gehen können, der Vortrag war vergessen, aber über das Semanr erzählen heute noch die Teilnehmer.

Mich hat es bestärkt für die Idee des Borderline-Trialogs und darin, PatientInnen häufiger auch in wichtige konzeptionellen Entscheidungen mit einzubeziehen – sie sind die wahren SpezialistInnen.